Frank Menzel, M.A. ist Staatswissenschaftler (Wirtschafts- und Rechtswissenschaften), hat seine Masterarbeit zum Thema „TTIP – Und strategische Veränderungen in der Automobil- und Pharmaindustrie“ verfasst und teilte uns seine Forschungserkenntnisse und Auffassungen — als Experte für diese Thematik — im Rahmen eines Interviews mit.

Hallo Frank! Zu allererst die einleitende Frage für all jene, die mit dem Begriff „TTIP“ nichts anfangen können — Was ist das überhaupt?

Die Abkürzung „TTIP“ steht für Transatlantic Trade and Investment Partnership und ist eine neue Generation von Freihandelsabkommen. Bei dem Abkommen handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, welcher derzeit zwischen der Europäischen Union und den USA verhandelt wird.

Welches Potential siehst du in dem Abkommen?

Kurz gesagt: riesiges Potential!
Das Abkommen bringt diverse Handelserleichterungen und Kostenersparnisse mit sich, da die Handels- und Transaktionskosten zwischen den Unternehmen minimiert werden und damit ein einheitlicher Vertrieb (beispielsweise von automobilen Vor- und Zwischenprodukten) in verschiedenen Ländern ermöglicht wird, der bisher nicht möglich war.
Laut Studien wird dies zu einem Wachstum führen, welches mittelfristig in einer Einkommenssteigerung resultiert. Pro Jahr wird in der EU demnach ein Einkommensanstieg von 545€ pro vierköpfige Familie erwartet, der minimal über dem auf dem US-Markt liegt (dort wird ein Anstieg von ca. 530€ pro vierköpfiger Familie prognostiziert). Unabhängig, davon ob der durch den kostenseitigen Effekt in Gang gesetzte Kreislauf tatsächlich zu Einkommenssteigerungen in diesem Ausmaß führen, bleibt festzuhalten, dass die Hersteller Kosten senken und dies bedingt durch Markt- und Wettbewerbsseite auch an den Endkunden weitergeben werden.
Darüber hinaus besitzt „TTIP“ das Potential für eine Vorbildfunktion zukünftiger Abkommen. Aus der Vorbildwirkung heraus werden große Veränderungen bzw. Standards resultieren und den Welthandel prägen.

Das klingt sehr gut, aber in der Vergangenheit gab es auch reichlich Kritik. Was ist dran an den Geschichten über Chlorhühnchen, Thüringer Rostbratwürsten made in USA und genmanipulierten Nahrungsmitteln?

In diesem Segment gab es in der Tat rege Diskussionen, welche jedoch differenziert betrachtet werden müssen, da eine Verallgemeinerung nicht möglich ist.
Einerseits wurden bei diesen Kritiken größtenteils vereinzelte, zumeist medienwirksame und polarisierende, Punkte herausgearbeitet und zielgerichtet zur Mobilisierung der Bürger eingesetzt, sodass die Diskussionen an Sachlichkeit verloren. hat Die Abschaffung regionaler Spezialitäten war exemplarisch hierfür zu keiner Zeit ein umfangreicher Bestandteil des Abkommens (die Aussage wurde aus dem Kontext gerissen, der CSU Landwirtschaftsminister hat dies in einem anderen Zusammenhang erwähnt).
Andererseits sind einige dieser Mythen und Geschichten die Folge von mangelnder Transparenz während der anfänglichen Verhandlungen über das Abkommen, was den Unmut vieler Kritiker bekräftigte und daher freilich als teilweise hausgemacht und unprofessionell kritisiert werden kann.

Ein strittiges Thema sind vor allem auch die sogenannten Investorenschutzklauseln, welche es Unternehmen ermöglichen sollen, Staaten vor unabhängigen Schiedsgerichten verklagen zu können und damit das nationale und supranationale Gesetze und Recht auszuhebeln.

Während meiner Untersuchung bin ich auch in diesem Teilbereich zu dem Ergebnis gekommen, dass den Diskussionen keine differenzierte Betrachtung zugrunde liegt.
Investorenschutzklauseln existieren schon seit vielen Jahren und sind Bestandteil mehrerer supranationaler Abkommen. Eine Flut von Klagen war diesbezüglich in der Vergangenheit nicht zu verzeichnen und bei Verfahren zwischen Staaten und Unternehmen wurden ca. 60% der Verfahren zu Gunsten des Staates entschieden. Im Zuge der öffentlichen Diskussionen wird oftmals eine essentielle Grundlage vergessen; Klagen aufgrund der Verletzung der Investorenschutzregelungen unterliegen keiner Willkür und hebeln ebenso wenig nationale und supranationale Gesetze aus! Insbesondere müssen ganz spezielle Voraussetzungen gegeben sein, damit eine Klage überhaupt möglich ist. Eine Klage hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn eine Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Unternehmen gegeben ist.
Als mangelhaft ist jedoch die Qualität der Ausfertigungen dieser Klauseln im NAFTA zu evaluieren, da schlechthin keine Auslegungsstandards existierten. In der Folge von diversen Nachbesserungen und gesellschaftlicher Kritik wurden die Klauseln im Verlauf der Verhandlungen im CETA jedoch bereits verbessert. Ebenso ist eine weitergehende Verbesserung im Zuge von TTIP zu erwarten.

Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten — wer sind für dich die Gewinner und die Verlierer des Abkommens, falls es ratifiziert werden sollte?

TTIP zielt darauf ab, eine große Freihandelszone zwischen der EU und den USA zu schaffen, was dementsprechend dazu führt, dass die Unterzeichner des Abkommens von dessen positiven Effekten profitieren werden. Bei den besagten Effekten handelt es sich um sogenannte Handelsumlenkungseffekte, die — wie ihrem Wortlaut zu sinngemäß zu entnehmen ist — bewirken, dass der Handel, welcher bisher beispielsweise mit Drittstaaten erfolgte, auf die Mitglieder des Abkommens umgelenkt wird.
Die Verlierer dabei? Ganz klar die Staaten, welche nicht am TTIP-Verhandlungstisch sitzen. Diese bleiben jedoch nicht untätig, sondern bemühen sich ihrerseits darum, eigene Abkommen mit anderen Staaten abzuschließen. Daraus hat sich ein wahrer Wettlauf um Handelsabkommen entwickelt.
Ein nennenswertes Beispiel eines Landes, welches nicht von TTIP erfasst wird ist Kanada. Kanada versucht daher ein eigenes Abkommen abzuschließen, welches unter der Abkürzung „CETA“ bekannt ist und ebenfalls bereits in den Fokus des medialen Interesses gerückt ist.

Angesichts der vehementen Kritik von Verbraucherschützern, verschiedenen Politikern, Journalisten, Rechtswissenschaftlern und besorgten Bürgern wurden viele Petitionen gegen TTIP und CETA ins Leben gerufen — welche Aussicht auf Gehör hat diese Form des Widerstandes in deinen Augen?

Gehör findet diese Form von Kritik sobald hinsichtlich der Anzahl der Petitionszeichner eine kritische Masse erreicht wurde. In Bezug auf Investorenschutzklauseln führte die massive Kritik dazu, dass die EU-Kommission die Verhandlungen ausgesetzt hat und eine öffentliche Konsultation einberief. Petitionen besitzen demnach die Möglichkeit Aufmerksamkeit zu erwecken und auf Missstände hinzuweisen. Eine direkte Einflussnahme ist jedoch nicht möglich.

Vertreter der Wirtschaft betonen vor allem die Chance auf die Schaffung von mehreren Tausend Arbeitsplätzen in ganz Europa. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in einigen Mitgliedsländern klingt das doch eigentlich zu schön um wahr zu sein. Kann das Abkommen wirklich so viele Arbeitsplätze schaffen?

Aufgrund der Kostensenkung des Handels und der Produktivitätssteigerung können in der Tat neue Arbeitsplätze entstehen, aber die Auswirkung hiervon wird im Verhältnis geringer ausfallen, als dies von den Repräsentanten prophezeit wird.

Erst vor kurzem haben die führenden Köpfe der Automobilindustrie gemeinsam für das Abkommen geworben. Ist das alles nur Fassade, weil man sich steigende Exportgewinne erhofft?

Selbstverständlich haben die jeweiligen Vertreter primär ihre eigenen Interessen vor Augen, erwarten eine Steigerung ihrer Gewinne und haben vermutlich auch während den Verhandlungen versucht indirekt und/oder direkt Einfluss auszuüben. Zweifelsfrei hat der Lobbyismus Teile von TTIP geprägt, jedoch war es für die Politik unumgänglich, die Unternehmen mit ins Boot zu holen, da man für die optimale Ausgestaltung des Abkommens Informationen aus der Praxis benötigte. Wir müssen uns vor allem Fragen: Wer bestimmt die zukünftigen industriellen und weiteren handelsbezogenen Standards? Diese Frage wird in allen Bereichen Folgeentscheidungen bedingen und ist von übergeordneter Natur. Dahingegen ist der verstärkte Nachdruck, wie er exemplarisch in der Automobilindustrie öffentlich wird, sehr verständlich.

Kurz zusammengefasst: Zu welchen Ergebnissen bist du in deiner Arbeit gekommen?

TTIP stellt eine neue Generation völkerrechtlicher Handelsabkommen dar und wird, insofern es ratifiziert wird, beispielsweise in der Automobilindustrie einige strategische Veränderungen mit sich bringen. Produktions- und Sourcingstrategien könnten sich ändern und Transaktionskosten minimiert werden. Zudem könnte der Konkurrenzkampf durch den Wegfall der Barrieren verstärkt werden. Dies trifft jedoch nicht für alle Branchen zu, da zum Beispiel für die Pharmaindustrie kaum strategische Effekte zu verzeichnen sein werden.
Einen weiteren wichtigen Punkt stellt der zeitliche Faktor da. Wenn TTIP jetzt nicht kommt, wird es scheitern und lediglich vereinzelte Teile, wie der Abbau der Zollschranken, werden nochmal gesondert ausgehandelt. Ohne TTIP besteht allerdings die Gefahr, dass andere Länder eigene Abkommen abschließen und neue Standards etablieren. In der Folge könnte in 5-10 Jahren dann China eine Vorreiterrolle einnehmen und eigene Produktstandards verwirklichen.